Vor uns das Meer – Junge Autorinnen und Autoren der 7a schreiben eine Erzählung weiter
Seit einigen Wochen beschäftigt sich die Klasse 7a im Deutschunterricht mit dem Jugendroman „Vor uns das Meer“ von Alan Gratz. Neben der Auseinandersetzung mit den Themen, den Figuren und der Erzähltechnik konnte sich auch kreativ mit dem Roman auseinandergesetzt werden, indem man die Handlung der Figur Hana fortsetzt.
gemalt von Xenia
Zum Hintergrund: Im Roman werden drei Fluchtgeschichten von Jugendlichen aus unterschiedlichen Zeiten parallel erzählt. Josef flüchtet 1939 vor den Nationalsozialisten auf der „St. Luis“ nach Kuba. Isabel flüchtet 1994 von Kuba nach Florida und Mahmoud flüchtet 2015 von Aleppo nach Deutschland.
Auf dem Mittelmeer geht das Schleuserboot, auf dem sich Mahmouds Familie befindet, vor der Küste Griechenlands unter. Um Mahmouds kleine Schwester Hana, die zu diesem Zeitpunkt noch ein Baby ist, zu retten, gibt die Mutter sie in ihrer Not auf ein anderes Boot. Hier endet die Handlung um Hana. Was mit ihr passiert, bleibt offen. An dieser Stelle setzen die unterschiedlichen Ideen der Schülerinnen und Schüler an.
Wer mehr über Josef, Isabel und Mahmoud erfahren möchte, dem sei der Roman empfohlen: Alan Gratz: Vor uns das Meer.
Celinas Fortsetzung: Hana Celinas Fortsetzung: Hana
Hana war zwölf Jahre alt. Sie wohnte in einem kleinen Kinderheim in Potsdam. Ihre echte Familie kannte sie nicht, da sie von ihrer Familie im Krieg weggegeben wurde. Im Kinderheim gefiel es Hana nicht gut, da sie keine Freunde hatte. Sie wollte mit den anderen Kindern nichts zu tun haben. Sie waren rassistisch und gewalttätig. Hana wollte nicht so sein wie die anderen Kinder. Hana wollte endlich adoptiert werden. Ihr größter Wunsch war es, Freunde und Familie zu haben. Sie wollte aus dem Kinderheim geholt werden, um neu zu starten.
Fatima war im Zug auf dem Weg nach Potsdam. Sie wollte ein Kinderheim besuchen, um zu schauen, ob ihre Tochter dort war. Bei ihrer Suche nach ihrer Tochter hatte sie schon unzählige Kinderheime besucht, doch bisher hatte sie Hana noch nicht gefunden. Fatima war entschlossen, weiter nach Hana zu suchen, bis sie sie gefunden hatte.
Hana las ein Buch, als sie von einer Betreuerin in ihr Büro gerufen wurde. Als sie das Büro betrat, saß eine fremde Frau an dem Tisch. Sie fing an, Hana Fragen zu stellen. Sie fragte, ob sie Hana hieß, ob sie aus Syrien kam und ob ihre Familie sie im Krieg abgegeben hatte. Hana antwortete auf alle Fragen mit „Ja“ und die Frau fing an zu weinen und umarmte sie. Dann erklärte sie, dass sie Hanas Mutter ist und Hana im Krieg abgeben musste, damit sie überleben konnten. Seit Hanas Mutter in Sicherheit war, hatte sie Hana gesucht und war jetzt überglücklich, sie gefunden zu haben. Außerdem wollte sie Hana adoptieren und sie ihrem Vater und ihren beiden großen Brüdern vorstellen. Als Hana das alles erfahren hatte, war sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Noch am selben Tag wurden ihre Adoptionspapiere unterschrieben und sie zog in ihr neues zu Hause. Hana verstand sich gut mit ihrer Familie und fand in ihrer neuen Schule viele Freunde. Ihr Traum war in Erfüllung gegangen.
Klemens' Fortsetzung: Hana: Irgendwo im Mittelmeer – 2015 Klemens' Fortsetzung: Hana: Irgendwo im Mittelmeer – 2015
Hana wurde von einer Frau namens Dalal in die Hände genommen. Die Frau fuhr mit dem Dingi und Hana nach Griechenland. In Griechenland suchte Dalal die Mutter von Hana, Fatima, doch sie hat sie nicht gefunden. Sie blieben zwei Tage in Griechenland in einem Flüchtlingscamp. Dalal floh mit ihrem Freund Bader. Die zwei wussten nicht so richtig, was sie mit dem Kind machen sollten; sie hatten noch nie ein Kind gehabt. Sie fragen herum, was sie machen sollten. Sie kauften mit dem bisschen Geld, was sie hatten, ein paar Sachen für Hana. Nach zwei Tagen gingen sie los in Richtung Mazedonien. Nach einem Tag hatten sie ein Taxi genommen, weil sie mit Hana nicht so weit laufen konnten. Der Taxifahrer hielt zwanzig Kilometer vor der Grenze und sie liefen das letzte Stück nach Mazedonien.
An der mazedonischen Grenze wurden die Flüchtlinge nur in kleinen Schritten durchgelassen. Es konnte sein, dass man schon mal drei Tage warten musste. Als sie ankamen, war eine riesige Schlange vor der Grenze. Bader stellte sich an. In der Zwischenzeit kümmerte Dalal sich um Hana. Doch plötzlich wurde es laut. Die Flüchtlinge hatten angefangen, sich vorzudrängeln. Es kam zu einem riesigen Chaos. Die Polizei schlug mit Schlagstöcken auf die Flüchtlinge ein und Leute wurden festgenommen. Nach einer Stunde hatte die Polizei alles wieder im Griff. Da die Polizei nicht nochmal so einen Aufstand haben wollte, haben sie die Flüchtlinge in Zehnergruppen reingelassen, doch es gab immer fünf Minuten Pause, bis die nächsten reindurften.
Nach zwölf Stunden wurden sie endlich reingelassen. Es war ein Uhr morgens und Badar, Dalal und Hana waren müde. Sie suchten zwei Stunden nach einer Schlafmöglichkeit, bis sie an einen alten und verlassenen Laden kamen. Sie schliefen fünf Stunden. Um acht Uhr wurden sie von Hana geweckt. Nach einer halben Stunde hatte sich Hana wieder beruhigt und sie gingen weiter nach Österreich. Sie nahmen Taxis, liefen und wurden mitgenommen, bis sie an der Grenze zu Österreich waren. An der Grenze wurden sie freundlich begrüßt, sie haben Essen und Trinken bekommen und haben eine Nacht in Österreich in einem Flüchtlingslager geschlafen.
Als sie ausgeschlafen aufwachten und Sachen für Hana kaufen wollten, bemerkten sie, dass ihr Geld verschwunden ist. Sie wurden anscheinend in der Nacht bestohlen. Badar und Dalal probierten irgendwie, an Geld zu kommen: Sie fragten Leute und suchten Geld. Doch dann entschieden sie, einfach weiterzugehen und nach Hanas Eltern zu fragen und auf dem Weg Geld zu bekommen. Sie hatten fünfzig Euro zusammenbekommen, als sie an der Grenze ankamen. An der Grenze hatten sie nirgendwo die Eltern von Hana finden können. Sie gingen nach Deutschland, wo sie weitersuchten. Sie nahmen Busse und Bahnen doch fanden nirgendwo die Eltern von Hana. Als sie in Stuttgart ankamen, suchten sie weiter. In Stuttgart blieben sie zwei Wochen, bis sie nach Dresden geschickt wurden, weil zu viele Flüchtlinge in Stuttgart waren. Da sie kein Auto und kein Geld hatten, wurde ihnen die Reise nach Dresden bezahlt.
In Dresden hatten sie so wie in Stuttgart eine Wohnung bekommen, bis sie von einer dreißigjährigen Frau aufgenommen wurden. Dalal hatte eine Anzeige ins Netz gestellt, in der Hoffnung, die Mutter von Hana zu finden. Badar und Dalal hatten Deutschkurse genommen und konnten nach einem halben Jahr relativ gutes Deutsch. Ein Dreivierteljahr später wurden sie von einer Frau namens Fatima Bishara angeschrieben – wegen der Anzeige von Hana. Fatima meinte, dass Hana ihre Tochter sei. Fatima hatte Pässe und Fotos geschickt und Dalal und Fatima haben ein Termin in Dresden ausgemacht. Zwei Tage später trafen sie sich, um Hana an Fatima weiterzugeben. Fatima war nicht alleine, sie kam mit Walid, Mahmoud und ihrem Mann, dem Vater von Mahmoud, Hana und Walid. Hana war schon über ein Jahr alt. Fatima freute sich so, dass sie sogar Dalal und Badar Geld gab. Hana freute sich, ihre Mutter zu sehen. Fatima und Dalal blieben seitdem immer in Kontakt und trafen sich regelmäßig.
Xenias und Lianas Fortsetzung: Hana Xenias und Lianas Fortsetzung: Hana
München, Bayern – 2021
Hana Weber saß gespannt in ihrem kleinen Zimmer auf dem Dachboden. Schon früh am Morgen kitzelten die warmen Sonnenstrahlen sie im Gesicht, weswegen sie sich schon um halb acht ihren Lieblingsroman schnappte und in die Geschichten eintauchte. Sie hörte ihren Vater aus dem Wohnzimmer rufen. Sie legte ein Lesezeichen in ihr Buch und stieg vorsichtig die Dachbodentreppe hinab. Genüsslich aß sie ihr Marmeladenbrot und trank ihren warmen Kakao, so wie sie es jeden Morgen tat.
Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, ging sie wieder hoch in ihr Zimmer und sah sich Facebook-Posts an. Plötzlich stieß sie auf eine Vermisstenmeldung eines Kindes namens Hana. Sie wurde auf den Post aufmerksam, da der Ersteller des Beitrages eine große Ähnlichkeit mit ihr hatte. Sie beide hatten dunkle, schwarze Locken und die unverwechselbaren kastanienbraunen Augen. Ihr Herz raste wie wild. War sie etwa das vermisste Kind? Schnell rannte sie die Treppen zu ihren Eltern hinunter und zeigte ihnen den Post. Sie hätte mit allem rechnen können, doch niemals mit dem, was ihre Eltern ihr dann erzählten.
„Schatz wir wollten es dir schon lange sagen, doch hatten Angst um deine darauffolgende Zukunft. Dein wahrer Name ist Hana Bishara und du stammst aus einer Familie, die aus Aleppo fliehen musste. Auf der Flucht hattet ihr einen Bootsunfall und deine Mutter konnte dich nicht mehr über Wasser halten. Wären wir nicht gekommen und hätten dich mitgenommen, wärst du heute nicht mehr am Leben“, erklärte ihre Mutter schluchzend.
Auf einmal wurde Hana klar, dass sie nun die größte Entscheidung ihres Lebens treffen musste, ob sie bei ihrer Adoptivfamilie bleiben möchte oder ob sie Kontakt zu ihrer wahren Familie aufnimmt und von nun an bei ihnen lebt. Sie hatte das Bedürfnis, ihre wahre Familie zu treffen, doch traute sich anfangs nicht es ihren Adoptiveltern zu sagen, da sie befürchtete, dass sie traurig sein würden. Nach einem langen und ausführlichen Gespräch trafen sie die Entscheidung, Kontakt zu Hanas wahrer Familie aufzunehmen, und vereinbarten einen Treffpunkt. Hana erfährt die Namen ihrer leiblichen Familie und dass sie in der großen Hauptstadt Berlin wohnen. Sie treffen sich im Café Kalwil Berlin.
Auf dem Weg von München nach Berlin – 2021
Am nächsten Tag klingelt Hanas Wecker um fünf Uhr morgens. Es war noch nicht hell geworden und in den anderen Häusern der Stadt waren die Rollos noch runtergefahren. Noch etwas verschlafen, aber dennoch aufgeregt stieg Hana in das Auto ein. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Trinkpäckchen und in ihrer linken war fest umklammert ihr Kuscheltier, welches sie auf ihrer Reise als Glücksbringer begleiten sollte.
Nach zwei ihr viel länger vorkommenden Stunden, legten Hana und ihre Familie eine kleine Pause auf einer Raststätte am Rande der Autobahn ein und bereiteten sich auf die weiteren dreieinhalb Stunden Fahrt vor. Hana sorgte sich, ob ihre leibliche Familie sie so behandeln würde wie ihre jetzige. Je mehr Gedanken sie sich über das Thema machte, desto aufgeregter war sie vor dem Treffen. Als die letzte halbe Stunde angebrochen war, stieg die Spannung nicht nur bei Hana, sondern auch bei ihren Adoptiveltern.
Berlin – 2021
Als Hana endlich in Berlin angekommen war, parkten sie in einem Parkhaus und mussten noch ca. zehn Minuten zum Café laufen. Mit jedem Schritt wurde sie nervöser und nervöser, doch sie spürte auch die Aufregung und die Glücksgefühle in sich aufsteigen. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie nun ihre echte Familie kennenlernen würde – nach elf Jahren, in denen sie geglaubt hatte, bei ihrer wahren Familie zu sein. Sie hatte ein wenig Angst, dass sie sich bei ihnen nicht finden könnte, dass sie ihre Persönlichkeit verliert, ihre Eltern ihr wie Fremde verkommen oder ihre leibliche Familie sie nicht als richtiges Kind akzeptieren würde. Eine ebenso große Angst von Hana war, dass sie ihre Adoptivfamilie nicht mehr wiedersehen würde. Bestimmt würde sie sie schrecklich vermissen. „Ob sie mich vergessen werden?“, fragte Hana sich in Gedanken.
Café Kalwil Berlin - 2021
Als Hana im Café angekommen war, sah sie im hinteren Bereich des Cafés eine Familie sitzen, welche ihr zuwinkte. Mit kleinen Schritten ging sie zum Tisch hinüber. Ihr Herz pochte wie wild, sodass sie schon Angst hatte, dass andere es hören konnten. Hier war sie nun: ihre echte Familie. Hana hatte sich den Moment anders vorgestellt. Sie konnte zwar nicht beschreiben, wie, aber in ihrer Vorstellung war es ganz anders gewesen.
Ein peinliches Schweigen lag im Raum. Nur im Hintergrund hörte man wenige Leute sprechen und Geschirr klirren. Am Tisch saß eine ältere Frau mit denselben schwarzen Locken wie sie, jedoch hatte sie schon einen gräulichen Ansatz. Neben der Frau, die ihre Mutter war, saß ein Mann, der ungefähr im selben Alter sein musste. Dieser war ihr Vater. Es saßen noch ein junger Erwachsener und ein Jugendlicher am Tisch, welche ihre leiblichen Brüder Mahmoud und Walid waren. Sie alle lächelten freundlich und Hanas Mutter lief eine Träne über das gebräunte Gesicht. Hana lächelte ebenfalls und sofort schlossen sie sich gegenseitig in die Arme. Hana wurde so fest gedrückt, dass sie dachte, zerquetscht zu werden, doch sie sagte nichts, sondern genoss den Moment in vollen Zügen. Nun wusste sie, was der Unterschied zu ihrer Vorstellung und der Realität war. In Wirklichkeit war der Moment noch sehr viel schöner.
Je länger sie miteinander redeten, desto schwieriger fiel Hana die Entscheidung. Ihre leibliche Familie war so nett, doch sie konnte es auch nicht übers Herz bringen, ihre Adoptivfamilie, welche sich Jahre lang liebevoll um sie gekümmert hatte und sie damals gerettet hatte, im Stich zu lassen. Beide Familien wollten, dass Hana bei ihnen ist. Hana wollte niemanden enttäuschen oder traurig machen. Sie hätte sich gewünscht, dass jemand ihr die Entscheidung abnimmt. Doch wer sollte dies tun? Ihre Familien machten ihr die Entscheidung nur noch schwerer. Dann fiel ihr eine brillante Idee ein: Ja, ihre Entscheidung stand fest!
Leise und zögernd erhob Hana das Wort: „Ich habe mich entschieden“, sagte sie vorsichtig zu ihren Familien. „Ich bleibe bei meiner Adoptivfamilie, weil ich sie so liebgewonnen habe. Sie waren in guten und schlechten Zeiten immer für mich da.“ KLIRR! Das Glas von Mahmoud fiel zu Boden und zersprang in tausend Stücke. Hana erschrak. „Du willst lieber bei diesen Leuten bleiben als bei uns? Elf Jahre haben wir mit viel Mühe nach dir gesucht und als es endlich so weit ist, dankst du uns so!?“, rief Mahmoud wütend.
Alle Gäste im Café starrten sie an, doch Mahmoud interessierte dies anscheinend nicht, denn er fluchte einfach weiter. Bis ein Kellner zu ihnen kam, die Scherben auffegte und fragte, ob alles in Ordnung sei. Frau Weber sagte zum Kellner, dass alles in Ordnung sei, und obwohl man merkte, dass dieser ihr das nicht wirklich glaubte, ging er wieder.
Hana brach in Tränen aus. Ihre schlimmste Befürchtung war wahr geworden. Frau Bishara versuchte Mahmoud mit sanfter Stimme zu beruhigen und entschuldigte sich für sein Verhalten. Mahmoud kochte immer noch vor Wut, war aber still und sah verlegen zu Boden. Auch der Rest der Familie Bishara war traurig und verletzt.
„Wie wäre es, wenn Hana bei uns bleibt, aber in den Ferien zu euch kommt“, schlug Herr Weber vor. „Das klingt doch nach einem guten Kompromiss“, sagte Herr Bishara. Mahmoud, der sich inzwischen beruhigt hatte, nickte, entschuldigte sich und sagte, dass er überreagiert habe. Hana lief in seine Arme und sie umarmten sich fest. Auch Walid und Frau Bishara waren einverstanden. „Also steht es jetzt fest“, sagte Hana und alle stimmten ihr zu. „Wir buchen ein Hotel hier in der Nähe und werden das Wochenende gemeinsam verbringen“, sagte Frau Weber. Alle umarmten sich ein letztes Mal und verabschiedeten sich. Hana war überglücklich, dass alles gut war, und verließ mit freudigen Sprüngen das Café.
Mettes Fortsetzung: Hana Mettes Fortsetzung: Hana
Die Frau, die Hana in den Arm bekommen hatte, war sehr geschockt. Sie fühlte sich schuldig, weil sie die Menschen nicht mitnehmen konnte und sie vielleicht ertrinken werden. Aber ihr Dingi ist genauso groß, wie das von Mahmoud gewesen ist, und es waren auch genauso viele Menschen darauf. Sie holte ihr Handy raus und wählte die Nummer der Küstenwache. Als dann endlich die Küstenwache kam, war das Dingi mit Hana schon auf Lesbos. Die Frau stieg gerade in eine Fähre zum Festland ein. Auf ihrem Arm lag Hana, schlafend. Als die Fähre losfuhr, konnte sie aus dem Augenwinkel ein anderes Boot sehen. Hätte sie gewusst, dass dieses Boot jenes ist, das sie gerufen hatte, auf dem Mahmoud mit seiner Familie war, wäre sie von der Fähre gesprungen und hätte der Familie ihre Tochter zurückgegeben.
Aber es kam, wie es kommen musste. Lesbos wurde vor ihren Augen immer kleiner und sie war entschlossen, Hana nach Deutschland zu bringen. Es waren einige Wochen vergangen. Hinter Hana und der Frau, die Tana heißt, lagen bereits Syrien, die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien. Nun sahen sie mit tausenden anderen Flüchtlingen dabei zu, wie ungarische Soldaten einen Zaun um die Grenze bauten. Dann wurde geschossen. Direkt auf Hana. Tana versuchte sich noch dazwischen zu stellen, aber es war zu spät: Hana war tot. Einfach weg. Dann trat Tana vor: „Ihr habt meine Hana ermordet. Dafür werdet ihr bezahlen!“ Plötzlich fiel noch ein Schuss. Die Kugel ging direkt in ihre Brust. Tana war nun ebenfalls tot. Es gab keine Möglichkeit für Hanas Familie, sie zu finden. Sie waren doch so weit gekommen – und jetzt: zwei Schüsse und zwei weitere Opfer dieses Krieges. Tana hatte alles gegeben, um Hana aufwachsen zu sehen, und jetzt sind sie so gestorben.
Milenas Fortsetzung: Hana Milenas Fortsetzung: Hana
Hana Bishara saß im Klassenraum der siebten Klasse der Gesamtschule Süd und starrte gedankenverloren in ihr Deutschbuch. Das aktuelle Thema war „Flucht und ihre Ursachen“. Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie an ihre eigene Flucht denken musste, und die Bilder, wie sie dabei ihre Familie verlor, kamen wieder hoch. Das Boot ihrer Familie ging damals in der Ägäis unter und nur sie wurde gerettet. Sie war damals noch ein Baby und sollte sich eigentlich an nichts erinnern können und doch hatte sie immer wieder einen Jungen vor Augen, der sich an der Bootskante eines Dingis festklammerte und um sein Leben flehte. Vielleicht war es nur der Wunsch, eine Lücke zu füllen, oder konnte es sein, dass sie sich wahrlich erinnerte?
Sie wurde damals nur gerettet, weil sie so klein war und keinen Platz verbrauchte. Immer wieder fragte sie sich: Wann ist man zu groß, um gerettet zu werden? Was wäre geschehen, wenn sie drei oder vier Monate älter gewesen wäre? Bei dem Gedanken vermischten sich bei ihr Wut über die Ungerechtigkeit und tiefe Trauer. Sie wünschte sich dann manchmal, die Einzelheiten ihrer Flucht wären im Mittelmeer versunken, doch die fremde Frau, die sie damals im Boot angenommen hatte, musste ja ihrer Adoptivmutter die ganze Geschichte erzählen.
Das Boot, in dem Hana Zuflucht fand, war damals vom Kurs abgekommen und so endete die Bootsfahrt in der Nähe der Hafenstadt Karystos. Die Frau wollte Hana am Strand ablegen und verschwinden, als Stefani Kornblum sie ansprach. Stefani wusste, was Flucht bedeutet. War doch ihre Familie 1940 aus Deutschland geflüchtet. Hana hatte etwas gebraucht, um zu verstehen, dass das Land, in das so viele flüchten wollten, selbst einmal der Grund war zu flüchten. Stefani nahm die Frau und deren Familie für ein paar Tage bei sich auf und die Frau erzählte von den Geschehnissen auf dem Meer. Viele Menschen glauben nicht an Wunder, Hana hatte eines erlebt; ja sie war der Beweis dafür, dass es sie gibt. Nach vier Tagen war die fremde Familie verschwunden und ließ Hana bei Stefani zurück. Was wohl aus ihnen wurde? Stefani versuchte damals, über die Polizei Hanas Eltern zu finden, doch die Polizisten meinten, diese seien sicher schon Fischfutter und sie sollte das Kind in ein Waisenheim geben, da es unmöglich sei, im Meer treibende Menschen zufällig zu finden. Doch Stefani adoptierte Hanna und zog mit ihr in ein neues Haus mit großem Garten. Hanna bekam eine neue Mutter. Jetzt, nach 12 Jahren, sitzt sie in der Schule und denkt über ihr Leben nach. Am Nachmittag lag Hana im Pool und lächelte – eigentlich hat sie ein tolles Leben.
Charlottes Fortsetzung: Hana Charlottes Fortsetzung: Hana
Mahmoud und seine Familie haben Hana das letzte Mal auf dem Meer gesehen, als Hana noch ein Kind war. Hana war auf einem Boot, damit sie überlebt. Sie wuchs in einem Kinderheim auf, das ihr alles gab, was man als Teenager brauchte, um sich wohlzufühlen. Am Anfang fand Hana das alles noch gut, doch auch Hana wurde älter. An ihrem 16. Geburtstag beschloss Hana, aus dem Kinderheim abzuhauen und ein neues Leben zu beginnen.
Im Kinderheim wollte keiner mit ihr etwas unternehmen oder befreundet sein. Das machte Hana traurig. Sie haute in der Nacht an ihrem Geburtstag ab. Hana spürte Wut und wollte sich an allen rächen. Sie war betrunken, daher war ihr nicht klar, was sie getan hatte: Sie hatte das Kinderheim in Brand gesetzt. Da Hana so betrunken war, war ihr nicht klar, dass die Polizei schon da war. Wegen Brandstiftung nahmen sie Hana fest. Sie verbrachte acht Jahre im Gefängnis. In diesen acht Jahren dachte Hana viel über ihr altes Leben und über ihr zukünftiges Leben nach.
Ihr wurde klar, was sie für einen Fehler gemacht hat und was sie den Leuten Schlimmes angetan hat. Endlich wurde sie aus dem Gefängnis entlassen. Sie suchte sich eine Wohnung und einen Job. Hana beschloss, sich einen Job zu suchen, bei dem sie Kindern oder Menschen, denen es nicht gutgeht, helfen konnte. Sie bekam eine Stelle in einem Kinderheim. Es machte ihr sehr viel Spaß. Hana lernte einen tollen Mann kennen. Der Name des Mannes war Max. Sie machten jeden Tag etwas zusammen und jeden Tag verliebte Hana sich mehr in Max. Nach einem Jahr machte Max Hana einen Heiratsantrag und Hana sagte: „Ja.“ Die beiden waren glücklich. Sie bauten sich in den nächsten Jahren eine tolle Familie auf. Hana hatte jetzt ein Traumleben.
Amelies Fortsetzung: Hana 2026, Berlin Amelies Fortsetzung: Hana 2026, Berlin
Hana Schulz stand in der Kuppel des Berliner Fernsehturms und blickte nachdenklich auf die Hauptstadt Deutschlands. Eine Stadt, die eine lange und ereignisreiche Geschichte hinter sich hatte. An jedem Ort, an jeder Ecke war einmal etwas Wichtiges passiert, das wusste Hana. Oft lief sie durch Berlin und überlegte sich, was an diesen Orten einmal Spannendes geschehen sein könnte. Doch noch öfter suchte sie nach Familien, die ihre sein könnten. Natürlich hatte sie eine Familie. Liebende Eltern, die sich perfekt um sie kümmerten und alles taten, was in ihren Möglichkeiten stand, um sie und ihre Schwester glücklich zu machen. Doch im Gegensatz zu Hana hatten ihre Familienmitglieder blonde Haare und blaue Augen. Sie hatten dieselbe DNA und waren alle in Deutschland geboren. Sie hatten Hana bei sich aufgenommen, als wäre sie ihre eigene Tochter, doch das war sie nicht. Hana hatte schwarze, glatte Haare, dunkelbraune Augen und war in Syrien geboren. Ihre echte Familie hatte sie im Krieg weggeben müssen, als sie noch ein Baby war. Das war das einzige, was Hana über sie wusste. Ihre neue Familie hatte sie aus einem Waisenhaus in Griechenland geholt und mit nach Deutschland genommen. Seitdem wohnte Hana mit ihren Eltern Gaby und Jürgen und ihrer kleinen Schwester Bella in einem Haus mitten in Berlin. Mit acht Jahren hatte Hana erfahren, dass die Familie, bei der sie wohnte und deren Nachnamen sie trug, nicht ihre echte Familie war. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie es erfahren hatte, als wäre es gestern gewesen:
Hana hatte Bella kurz nach ihrer Einschulung mit den Hausaufgaben geholfen. Bella sollte ihre Familie malen. Sie hatte für jedes Familienmitglied ein Strichmännchen auf ein Blatt gemalt. Die von Bella, Gaby und Jürgen sahen fast gleich aus, doch Hanas Figur war ganz anders. Für Haut und Haarfarbe hatte Bella andere Stifte benutzen müssen und auf dem Bild sah Hana nicht aus, als würde sie zur Familie gehören. Da hatte Hana sich zum ersten Mal gefragt, wieso sie nicht war wie ihre Schwester. Den ganzen Tag hatte sie nachgedacht und hatte bemerkt, dass ihre Haut auch dunkler war, als die der anderen Kinder, die sie kannte. Da sie Antworten auf ihre Fragen gebraucht hatte, war sie am Abend zu ihrer Mutter gegangen und hatte sie gefragt. Gaby hatte sie eine Weile nachdenklich angestarrt und hatte sie dann dazu aufgefordert, sich ins Wohnzimmer zu setzen und kurz zu warten. Kurz nachdem Hana sich auf ihren Lieblingssessel gesetzt hatte, war ihre Mutter mit ihrem Vater im Schlepptau wieder aufgetaucht. Ihre Eltern hatten sich ihr gegenübergesetzt und sie ernst angeguckt. Dann hatte ihre Mutter zögerlich angefangen zu sprechen: „Hana, bevor wir dir das jetzt sagen, musst du wissen, dass wir dich lieben wie nichts anderes auf der Welt. Du und deine Schwester seid unser Ein und Alles, und das werdet ihr auch immer bleiben“. Verwirrt hatte Hana zwischen ihren Eltern hin- und hergeblickt. Natürlich liebten sie sie. Das hatte Hana auch noch nie in Frage gestellt. Was war los, dass ihre Eltern es ihr erst versichern mussten? Ihre Mutter hatte weiter gesprochen: „Vor sieben Jahren waren Dein Vater und ich in Griechenland im Urlaub. Als wir gerade an einem Laden vorbeikamen, sahen wir ein Plakat von einem Kinderheim, das schließen musste und nicht wusste, wohin mit den Kindern…“ Hanas Eltern hatten ihr erzählt, dass sie sofort in dieses Kinderheim gegangen waren, und sich tatsächlich dazu entschieden hatten, Hana zu adoptieren. Nachdem sie das erfahren hatte, war Hana weinend auf ihr Zimmer gerannt und hatte es für eine Woche nicht verlassen. Ihre Eltern hatten zum Glück viel Verständnis für sie gehabt, sie aus der Schule entschuldigt und ihr alles auf ihr Zimmer gebracht, was sie brauchte. Als Hana sich schließlich beruhigt hatte, hatten sie und ihre Eltern ein ernstes Gespräch geführt, in dem Jürgen und Gaby ihr klargemacht hatten, dass sie Hana liebten, wie sie war. Auch wenn sie nicht ihr echtes Kind war. Außerdem hatten sie nichts dagegen, wenn Hana nach ihrer leiblichen Familie suchte, auch wenn von ihr nicht mehr als die Herkunft bekannt war. Hanas Eltern hatten ihr erzählt, dass sie vermuteten, dass Hanas Familie sich in Deutschland befand, da dort viele Flüchtlinge aufgenommen worden waren. Seit diesem Tag hatte Hana es sich zum Ziel gemacht, ihre leiblichen Verwandten zu finden.
Seufzend wandte sich Hana wieder der Aussicht auf Berlin zu und überlegte, was ihr nächster Schritt sein könnte. Bis jetzt hatte sie immer nach Familien mit schwarzen Haaren gesucht, die aussahen, als wären sie eventuell aus Syrien, doch nach vier Jahren vergeblicher Suche gestand sie sich ein, dass sie eine neue Methode brauchte, wenn sie ihre Familie finden wollte. Bis jetzt hatte sie nur leider noch keine zündende Idee gehabt. Nach einem letzten Blick auf die Straßen Berlins stieg Hana die Treppen des Turmes hinunter und machte sich auf den Weg nach Hause. Plötzlich ertönte hinter ihr eine laute Sirene. Hana drehte sich um und sah ein Feuerwehrauto mit hoher Geschwindigkeit auf sie zukommen. Direkt dahinter erkannte sie ein Weiteres und dahinter noch eines. Das Sirenengeheul war inzwischen so laut, dass Hana stehenblieb, um ihre Ohren zuzuhalten und ihre Augen zuzukneifen.
So stand sie auf dem Bürgersteig und wartete, bis der Lärm leiser wurde. Erst als sie endlich ihre Hände von ihren Ohren nehmen konnte, um weiterzugehen, bemerkte sie, dass die Wagen in Richtung ihres Zuhauses gefahren waren, und ein schrecklicher Verdacht beschlich sie. Hana begann zu rennen.
Das Haus brannte lichterloh. Wie gelähmt starrte Hana in die Flammen und versucht sich einzureden, dass Gaby in Sicherheit war und sich irgendwo draußen einen schönen Tag machte. Bella und Jürgen waren zum Zeitpunkt des Brandes glücklicherweise zusammen einkaufen gewesen, doch Gaby war zu Hause geblieben, um zu kochen. Jetzt standen die drei vor ihrem brennenden Zuhause und warteten darauf, dass die Feuerwehrmänner, die es vorhin betreten hatten, um zu untersuchen, ob sich noch jemand darin befand, wieder herauskamen.
Nach einigen Minuten, die Hana wie eine Ewigkeit vorkamen, kamen die Männer wieder aus dem Haus gerannt. Einer trug eine leblose Person über seiner Schulter, die auf eine Trage gelegt wurde. Sofort erkannte Hana ihre Adoptivmutter. Sie lag reglos auf der Trage und wurde von Sanitätern umzingelt. Langsam näherten sich Hana, Bella und Jürgen der Gruppe, und als Hana ihre geliebte Mutter sah, blieb ihr für einen Moment die Luft weg. Ihre Klamotten waren zerrissen, ihre Haut war schwarz vom Rauch und sie regte sich nicht. Neben sich hörte Hana ihren Vater laut keuchen, und ihre kleine Schwester begann zu weinen. „Was ist mit ihr passiert?“, fragte Jürgen tonlos. „Rauchvergiftung“, antwortete einer der Sanitäter, während er Gaby an ein Beatmungsgerät anschloss. „Wir bringen sie ins Krankenhaus. Wenn Sie möchten, können Sie hinterherfahren. Ihre Frau wird überleben und Ihr Haus wird gelöscht, aber es wird nicht mehr bewohnbar sein.“ Erschrocken schnappte Hana nach Luft. Auf einen Schlag hatte sie kein zu Hause mehr. Keinen Ort, an den sie nach der Schule ging und an dem sie von ihrer gesunden Mutter empfangen wurde. Nicht mehr ihr eigenes Zimmer, welches sie mit so viel Mühe eingerichtet hatte. Hana wusste genau, wie schwer es war, in Berlin eine schöne und bezahlbare Wohnung zu finden, und sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt in Berlin bleiben konnten. „Wo sollen wir denn jetzt wohnen?“, fragte sie ihren Vater, während sie ins Auto stiegen. „Ich bin mir sicher, dass Freunde von uns uns vorübergehend aufnehmen können. Wir können außerdem eine Anzeige in die Zeitung stellen. Bestimmt wird sich jemand finden, der ein passendes Angebot für uns hat.“ Natürlich versuchte Jürgen mit diesen Worten nur seine Kinder zu beruhigen; bei Bella klappte es und sie ließ sich erleichtert in ihren Kindersitz sinken, während Hana sorgenvoll aus dem Fenster starrte.
Während die Familie Schulz nach einem neuen Zuhause suchte, wohnten sie bei Freunden. Doch dort war nicht viel Platz, und die ganze Familie musste im Wohnzimmer schlafen. Gaby, die nach zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war die Einzige, die ein eigenes Zimmer bekam, da sie, auch wenn sie von der Rauchvergiftung keinen bleibenden Schaden davon trug, immer noch viel Ruhe brauchte. Sie mussten so schnell wie möglich ein neues Haus finden.
Wir suchen ein neues Zuhause
Hallo, wir sind Gaby, Jürgen, Hana und Bella Schulz. Unser Haus wurde durch einen Brand zerstört und jetzt suchen wir etwas Neues. Wenn Sie ein Angebot für uns haben, melden Sie sich bitte unter der angegebenen Nummer. Vielen Dank
So lautete die Anzeige, die drei Tage nach dem Brand in sämtlichen Zeitungen erschien. Noch am selben Tag bekam Jürgen einen Anruf einer unbekannten Nummer. Er ging ans Telefon und die Person am anderen Ende der Leitung begann zu sprechen. Hana konnte sie nicht hören, aber es musste ein sehr interessantes Gespräch sein, denn Jürgen schaffte es, gleichzeitig zu lachen, erschrocken zu gucken, blass zu werden und Hana, die direkt neben ihm stand, begeistert anzusehen. Die Person schien Fragen zu stellen, denn Jürgen antwortete immer nur mit „Ja“. Nach einigen Sekunden reichte er Hana das Telefon. Sie blickte ihn verwirrt an, doch er nickte ihr nur zu und bedeutete ihr, in den Hörer zu sprechen. „Hallo?“, sagte Hana also zögerlich. „Hana?“, erklang eine Frauenstimme, „bist du das?“. „Ja, ich bin Hana“, antwortete Hana verwirrt. „Hallo Hana“, sagte die Frau, „wie geht es dir?“ „Mir geht’s gut“, sagte Hana, immer noch unwissend, wieso die Frau mit ihr telefonieren wollte. „Bist du adoptiert?“, fragte die Frau dann plötzlich gerade heraus. Was? Woher wusste die Frau das? Sie kannte Hana doch gar nicht. Wieso fragte sie überhaupt so etwas? „Ja, bin ich“, antwortete Hana verwirrt. Schon lange hatte sie beschlossen, offen mit dieser Tatsache umzugehen. Unterdrücktes Schluchzen erklang. Was war los? Hatte Hana etwas Falsches gesagt? Gerade, als sie nachfragen wollte, sprach die Frau: „Ich habe eure Nummer in der Zeitung gefunden und musste unbedingt wissen, ob du es wirklich bist.“ Hanas Verwirrung wuchs. „Wer sind Sie überhaupt?“, fragte sie. Als sie aufblickte, sah sie ihren Vater, der Bewegungen machte, als würde er ein Baby wiegen. Waren jetzt alle verrückt geworden? Statt ihr eine richtige Antwort zu geben, begann die Frau jedoch zu erzählen: „Vor elf Jahren ist unsere Familie wegen des Krieges aus Syrien geflohen. Es war eine anstrengende Flucht, die teilweise über das Meer ging. Wir hatten nur ein Gummiboot, das wir mit vielen Leuten teilen mussten. Wir gerieten in einen Sturm und unser Boot sank.“ Die Frau holte tief Luft und es klang fast, als würde sie weinen. Dann sprach sie weiter: „Ich, mein Mann und unsere zwei Söhne schafften es heil aus der Situation, aber ich musste meine kleine, geliebte Tochter Hana an fremde Leute abgeben, damit sie überlebte.“ Nun begann die Frau endgültig zu weinen, und in Hana schien ein Feuerwerk zu explodieren. Die Frau am anderen Ende der Leitung war ihre Mutter! Sie hatte sie endlich gefunden. Auch Hana begann nun zu schluchzen, und stürzte sich in die Arme ihres Vaters, der immer noch neben ihr stand.
„Mama“, weinte sie. „Meine Tochter!“, erwiderte die Frau, deren Namen Hana immer noch nicht kannte. Nach einigen Minuten, in denen bis auf ihr gelegentliches Schluchzen nichts zu hören war, begann Hanas Mutter wieder zu sprechen: „Ich möchte dich unbedingt treffen“, sagte sie. Hana war so glücklich, dass sie gar nicht antworten konnte. Sie hatte nie gewusst, ob ihre Mutter nach all den Jahren überhaupt noch etwas mit ihr zu tun haben wollte. Doch jetzt schlug sie direkt vor, Hana zu treffen. „Möchtest du das auch?“, fragte Hanas Mutter. Anscheinend hatte sie ihr Schweigen als Unsicherheit gedeutet. „Natürlich!“, lachte Hana. „Am besten so schnell wie möglich“. „Kannst du morgen?“, schlug die Frau auch direkt vor. Eigentlich hatte Hana morgen Fußballtraining, doch für so etwas Wichtiges konnte sie es ruhig mal ausfallen lassen. Hana stimmte also zu, und sie vereinbarten einen Treffpunkt und eine Uhrzeit. Dann verabschiedeten sie sich überglücklich. „Mein Name ist übrigens Fatima“, sagte Hanas Mutter noch, bevor sie auflegte. „Fatima“, murmelte Hana gedankenversunken. Dann ließ sie das Telefon fallen und rannte wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer, um Gaby alles zu erzählen.
Hana blickte sich um. Sie saß auf der Parkbank, an der sie ihre Mutter treffen wollte. Sie wartete schon seit zehn Minuten, was vielleicht auch daran lag, dass sie 15 Minuten zu früh gekommen war. Trotzdem begann Hana, sich langsam Sorgen zu machen. Vielleicht wollte ihre Mutter sie ja doch nicht sehen. Vielleicht hatte sie Hana am Telefon als unsympathisch empfunden und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Bevor Hana sich jedoch weitere Gedanken darüber machen konnte, sah sie eine Frau um die Ecke biegen. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel und ihre dunklen, glatten Haare fielen ihr offen über die Schultern. Mit großen Schritten kam die Frau näher, und Hana konnte ihre schönen Gesichtszüge erkennen. Sofort stand fest, dass diese Frau Hanas Mutter war. Hana war wie das kleinere Abbild von ihr. Die Frau begann zu rennen, und auch Hana sprang von der Parkbank auf, um auf ihre Mutter zuzustürmen. Fatima öffnete ihre Arme, und Hana stürzte sich hinein.
Die nächsten Stunden verbrachten Hana und Fatima auf der Parkbank und redeten. Es gab so viel zu erzählen, dass sie damit kaum aufhören konnten, doch plötzlich unterbrach Hanas Mutter ihren eigenen Redefluss und klatschte sich gegen die Stirn. „Hana!“, sagte sie, „ich habe ganz vergessen, dir etwas Wichtiges zu sagen.“ Gespannt blickte Hana ihre Mutter an. „Ich habe dich ja gestern wegen eures Artikels in der Zeitung angerufen“, begann sie und machte dann eine kunstvolle Pause, in der Hana nur nickte. „Ich habe diese Zeitung nur gelesen, weil ich tatsächlich etwas zu vergeben habe.“ Überrascht blickte Hana ihre Mutter an. Sie hatte etwas zu vergeben? Hieß das, ihre Mutter hatte vielleicht eine Wohnung für Hana und ihre Familie? Fatima sprach weiter: „Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir nach unserer Flucht von einem alten Ehepaar aufgenommen wurden.” Hana nickte. „Vor zwei Jahren ist Ruth gestorben, und ihr Mann ist seit letztem Jahr im Altenheim. Das Haus, in dem wir mit ihnen gewohnt haben, haben Ruth und Saul uns geschenkt. Sie sind sehr herzensgute Menschen. Mit dem Haus haben sie uns aber auch die Aufgabe gegeben, anderen Menschen genauso zu helfen, wie sie uns geholfen haben. Das Haus ist groß, und nachdem dein ältester Bruder Mahmoud vor zwei Monaten ausgezogen ist, bewohnt unsere Familie nur die untere Etage. Der erste und zweite Stock stehen leer und bieten genug Platz für eine Familie mit zwei Kindern. Wenn du und deine Familie also Interesse habt…“ Bevor Fatima den Satz auch nur beenden konnte, hatte Hana sie schon stürmisch umarmt. Wann hatte ihr Leben sich entschieden, ihr so viele Gefallen auf einmal zu tun? Hana konnte mit ihren beiden Familien in einem Haus wohnen. Sie hatte ein neues Zuhause und eine neue Familie. Sie würde ihre beiden Brüder und ihren Vater kennenlernen und mit ihnen und ihrer Mutter viele wunderbare Sachen erleben. Ihre beiden Familien würden sich bestimmt gut vertragen und alles gemeinsam machen. Sie konnten den Haushalt gemeinsam schmeißen, sie konnten zusammen essen, gemeinsam Ausflüge oder sogar Urlaub machen und einfach nur glücklich sein. Noch nie hatte Hana so positiv auf ihre Zukunft geblickt, und genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte, kam es dann auch. Noch am selben Abend lud Hanas leibliche Familie ihre andere Familie zum Abendessen und zu einer Wohnungsbesichtigung ein. Hana vertrug sich auf Anhieb mit ihrem Vater und ihren großen Brüdern, die sich um Hana kümmerten, als wäre sie das Kostbarste auf der Welt. Auch Gaby, Bella und Jürgen fühlten sich sehr wohl, und schon einen Monat später zogen sie in das Haus in Berlin. Hana lebte ihr Traumleben und fühlte sich unendlich geborgen – hier bei ihren zwei Familien.
Mathieus Fortsetzung: Hana Mathieus Fortsetzung: Hana
Das Dingi trieb in den hohen Wellen, während all seine Passagiere sich halb erfroren zusammenkauerten. Alle syrischen Flüchtlinge fühlten sich schuldbewusst und elend. Sie alle hätten helfen müssen. Nun hatten sie niemanden gerettet. Niemand außer Esma. Die kleine Hana lag auf ihrem Schoß, eingekuschelt in ein Tuch. Esma hatte das Leben dieses kleinen Mädchens gerettet. Ihr Mann Baschar fand das nicht gut.
„Warum hast du sie gerettet? Wir können uns nicht um sie kümmern!“
„Warum denn nicht. Wir sind es den Ertrunkenen schuldig. Willst du mit dem Gedanken leben, niemanden von ihnen gerettet zu haben?“
„Nein, aber wenn wir ankommen, geben wir sie ab!“, entschied Baschar. „Wir können es uns nicht leisten, ein weiteres Maul zu stopfen.“
Esma widersprach ihm. „Wenn wir erstmal in Deutschland ankommen, wird uns dort von der Regierung geholfen.“
Sie blickte traurig auf Hana. Da sagte eine andere Frau: „Ich werde euch bei dem Baby helfen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.“ Weitere Flüchtlinge boten ihre Hilfe an. Esma war überglücklich.
Nach einer welligen Ewigkeit erreichte das Dingi Griechenland. Sie hatten es geschafft! Den tödlichsten Teil ihrer Flucht hatten sie nun hinter sich. Auf dem letzten Stück ihrer Flucht übers Meer hatten sich die Flüchtlinge abwechselnd um Hana gekümmert, damit sich Esma ausruhen konnte. Nacheinander stiegen die syrischen Flüchtlinge aus dem Dingi. Sofort liefen sie den Strand hinauf, wo sie von einem Polizisten angehalten wurden, der sie in ein Flüchtlingscamp bringen würde.
Auch Esma wollte sich ihnen anschließen, doch Baschar hielt sie zurück und führte sie hinter eine Düne.
„Was ist?“, fragte Esma verwirrt.
„Folge mir. Wir müssen uns an den Polizisten vorbei schleichen. Ich will nicht riskieren, Probleme zu bekommen. Möglicherweise werden sie uns hier festhalten. Ach, und sorg‘ dafür, dass das Monster da nicht anfängt zu heulen.“
Esma Musste lächeln. Leise und geduckt schlichen die beiden Flüchtlinge durch die Dünen. Esma öffnete Google Maps.
„Drei Kilometer von hier ist ein Hafen. Dort liegt eine Fähre, die uns nach Italien bringt. Von dort aus müssen wir mit einem Zug nach Deutschland.“
Bevor sie zum Hafen liefen, stillte Esma das Baby und Baschar kaufte etwas zu essen. Danach begannen sie ihren kurzen doch anstrengenden Fußmarsch. Esma war totmüde und sie wünschte sich, nur mal eine Nacht gut schlafen zu können.
Die letzten Wochen waren nicht leicht für sie und ihren Mann gewesen. Ihr vier Monate alter Sohn war bei einem Hagel aus Schüssen ums Leben gekommen. Als sie den Hafen erreichten, war es schon spät, so dass sich Esma und Baschar zu vielen anderen Flüchtlingen in einen Park legten. Sie bettete Hana in ihre Jacke, damit diese nicht fror. Dann schlief auch sie ein.
Eine lange Schlange hatte sich vor der Fähre gebildet und Baschar hatte die Geduld verloren. Es war heiß und sie schwitzten, aber sie mussten warten. Da fiel Esma etwas ein: Sie mussten Geld sparen. So verlor auch sie langsam die Geduld.
„Ich zähle bis Drei, dann rennen wir los“, flüsterte sie ihrem Mann zu. „Eins, Zwei, Drei!“ Sie rannten los. Als der Mann am Eingang erkannte, was geschah, verschwanden die beiden schon in der Menge. Sie hörten die Schritte des Mannes hinter sich. Als sie hinter einer Ecke verschwanden, setzten sie sich in eine Gruppe syrischer Flüchtlinge. Ein Mann gab Esma eine Decke, damit sie sich verstecken konnte. Nun kam auch der Mann, der sie verfolgt hatte, um die Ecke und rannte an ihnen vorbei.
Als sie in Italien ankamen, nahmen sie einen billigen Zug von Catanzaro nach Rom. Dort stiegen sie in einen anderen Zug nach Mailand. Von dort aus fuhren sie mit einem weiteren Zug nach Berlin. Sie hatten eine Menge Geld ausgegeben, um dort hinzukommen. Außerdem stellte sich heraus, dass sie einen großen Umweg genommen hatten. Doch nun waren Esma, Hana und Baschar in Sicherheit und Esma hatte vor, sich auf die Suche nach Hanas Familie zu machen.
Arnes Fortsetzung: Hana Arnes Fortsetzung: Hana
Als Hana auf das Dingi übergeben wurde, war ihre Mutter sehr dankbar, aber was sie nicht wusste war, dass die Leute Hana 200 Meter entfernt ins Meer warfen. Glücklicherweise wurde sie an einen Felsen gespült.
Am nächsten Tag, als es schon hell geworden war, wurde sie von der Küstenwache gefunden und ans Festland gebracht. Dort verbrachte sie fünf Jahre in einem Kinderheim. Danach kam eine Person, die sie adoptieren wollte. Zu Hanas Glück war diese Person sehr reich: Es handelte sich um Papas Costas. Er war der griechische Konsul. Nach zehn weiteren Jahren in der glücklichen Familie Costas wollte ihr neuer Vater nach Deutschland. Hana wollte aber in Griechenland bei ihren Freunden bleiben. Darum erlaubte Papas, dass sie bei ihrer besten Freundin und deren Mutter leben durfte.
Die Mutter von ihrer besten Freundin hieß Isabel Fernandez. Ihre Freundin hieß Lilly. Lillys Mutter war in den Neunzigern aus Kuba nach Amerika geflüchtet. Mittlerweile war sie mit ihrem Mann nach Griechenland gezogen, da er dort arbeitete. Zwei Jahre nach seinem Umzug berichtete Hanas Vater in einem seiner Anrufe: „Ich habe eine Nachricht für dich, ich wohne mittlerweile in Berlin. Dort habe ich eine super Schule für dich gefunden. Ich habe auch eine Person kennengelernt namens Fatima. Ihre Söhne haben sich bereiterklärt dir Deutsch beizubringen. Darum wirst du auch nach Deutschland ziehen. Du musst wissen, dass Fatimas Söhne Mahmoud und Walid auch syrische Flüchtlinge sind. Zufälligerweise haben sie auch eine kleine Schwester namens Hana, die sie allerdings auf ihrer Flucht verloren haben.“
Sechs Monate später saß Hana in einem Flugzeug Richtung Berlin. Sie war sehr traurig, dass sie von ihren Freunden weggehen musste, allerdings freute sie sich auf Deutschland und auf die berühmten Brezeln. Als sie dann gelandet war, musste sie feststellen, dass in Deutschland gar nicht alle Lederhosen tragen und Bier trinken und Brezeln essen. Das war für sie ein sehr großer Schock. Als sie diesen Schock überwunden hatte, hat sie gesehen, dass Papas und zwei andere Jungen auf sie warteten. Schnell stellte sich heraus, dass Mahmoud und Walid sehr nette Menschen waren. Nach etwa zwei Monaten konnte sie deutsch sprechen; es war nicht perfekt, aber ausreichend.
Eines Abends saßen die beiden Familien beim Tee vor dem Kamin. Papas erzählte, dass Hana auf einem Felsen gefunden wurde und allen wurde plötzlich klar, dass das nicht weit von dem Unfallort von Mahmouds Familie war. Konnte das möglich sein, was sie dachten? Sie entschlossen sich einen DNA-Test zu machen. Das Ergebnis sollte etwa zwei Wochen nach dem Test eintreffen, aber nun waren schon fünf Wochen vergangen. Nun hatten Hana und Mahmoud sich schon richtig angefreundet, sie hatten schon ganz vergessen, dass sie einen DNA-Test gemacht hatte. Doch dann fiel es ihr wieder ein; von jetzt an wartete sie jeden Tag auf die Post. Nach zwei Wochen hatte sie die Hoffnung verloren, aber dann genau zwei Tage vor ihrem Geburtstag, an dem sie 16 wurde, kam das Ergebnis an. Sie öffnete den Brief sofort. Sie hätte sich fast am Brieföffner geschnitten, so zittrig war sie. Ihr Herz raste, sie hatte Angst, Freude und Hoffnung. Sie wusste nicht, weshalb sie Hoffnung hatte, aber sie hatte sie. Als Hana das Ergebnis las, war sie geschockt, sie war tatsächlich mit Mahmoud verwandt. Als Fatima von dem Ergebnis hörte, war sie einfach nur glücklich. Vor 15 Jahren hatte sie ihre Tochter verloren, nun hatte sie sie wieder.